
aus: „Utopia – Gefährliche Träume“https://www.amazon.de/dp/B0BMB7NZX8
https://www.thalia.de/shop/home/artikeldetails/A1066969906
Sein weißer dünner Leinenkasack und die Hose klebten. Ihm war bewusst, dass er weit sichtbar war, doch er hatte bei seiner Flucht keine andere Wahl gehabt. Es war die letzte Chance gewesen. Was er da in seinem Karren transportierte, war ihm unklar. Er zermarterte sein Gehirn, doch es blieb im Verborgenen. Nur eines wusste er: In dem Karren war das Wichtigste, was es in seinem Leben gab. Das galt es zu retten! Sein eigenes Leben war dagegen unwichtig. Andererseits, wenn er nicht mehr lebte …?
Er musste unbedingt diese Kreuzung erreichen. Das hatten sie ihm eingebläut. Doch das Meiste war weg, wie ausgelöscht. Krampfhaft kämpfte er Meter um Meter mit den Gleisen – und mit seinen Erinnerungen, doch sie wollten einfach nicht wiederkommen.
Dann geschah, was er schon befürchtet hatte. Der grobe Schotter zwischen den Schwellen brachte ihn ins Straucheln. Er fing sich, den Handgriff des Karrens nicht loslassend, doch die Eisenräder des einachsigen Handkarrens rutschten von den Schienen. Ohne darüber nachzudenken, ob das, was er da tat, überhaupt noch einen Sinn machte, da man ihn vielleicht schon verfolgte, bückte er sich und ächzte den Karren wieder hinauf. Dass der Radstand tatsächlich exakt der Spurweite der Schienen entsprach!
Hastig ackerte er weiter, mühsam bedacht, nicht wieder abzurutschen. Die Abenddämmerung brach herein und tat ihr Übriges dazu, dass er auf der durch einen dichten Kiefernwald führenden Bahnlinie kaum noch etwas erkennen konnte. Die Schienen glänzten ein wenig, das bot Orientierung und beruhigte ihn zugleich. Sie hatten doch gesagt, die Bahnlinie sei stillgelegt. Doch nicht benutzte Schienen glänzen nicht. Was, wenn …
Weiter! Nicht zu viel nachdenken. War nicht dahinten in der Ferne schon der Bahnübergang sichtbar, an dem die Straße kreuzte? Das war schaffbar. Keuchend und am ganzen Körper zitternd kämpfte er sich weiter voran, Schwelle für Schwelle, Meter für Meter.
Doch was war das? Eine Weiche? Tatsächlich, die Strecke verzweigte sich. Ein Gleis bog nach rechts ab. Hatten die das vielleicht mit Kreuzung gemeint? Nein, das konnte nicht sein. Es war von einer Straße die Rede gewesen.
Dahinten! Schau nach vorn und beeil dich! Die innere Stimme! Obwohl – es kam ihm so vor, als hätte da gerade jemand zu ihm gesprochen. Vorsichtig bugsierte er die Eisenräder über die Weiche hinweg auf die geradeaus führenden Schienen, als er ein Geraschel aus dem Wald links von sich zu vernehmen glaubte. Atemlos hielt er inne, drehte sich und lauschte in das Rauschen der Baumwipfel hinein.
Renn! Nimm es aus der Kiste heraus und renn! Das sind sie! Dieser völlig naheliegende Gedanke! War er wirklich nicht bei Sinnen gewesen?
Zu spät! Kaum hatte er den Befehl der inneren Stimme umgesetzt, waren die Vermummten da. Zu dritt stürzten sie sich auf ihn, überwältigten ihn und entrissen ihm, was er zu retten versucht hatte.
Warum hast du nicht …?
Doch dann verstummte die innere Stimme. Stattdessen brüllte er mit der letzten Kraft los, die noch in ihm steckte. Vielleicht könnten ja die, welche irgendwo dahinten auf ihn warteten, irgendetwas hören.
Aber ein Knebel erstickte seinen Schrei und ein Sack, den man ihm über den Kopf stülpte, raubte ihm die Luft und die Orientierung.
Hat dies auf Jean P. rebloggt.
LikeLike